Ein Beitrag von Christa Meves
Am 29. Dezember 2017 gab die
Weltgesundheitsorganisation (WHO) folgende Meldung heraus, die von der
öffentlich-rechtlichen ARD in der Tagesschau übernommen wurde: „Jedes 14.
Mädchen in Deutschland ist fettleibig – und sogar jeder 9. Junge. Die WHO
fordere deswegen klarere Beschränkungen für Süßigkeiten und Junk-food-Werbung.
Die freiwillige Selbstkontrolle funktioniere nicht.“
Das ist nun allerdings eine viel zu späte Erkenntnis. Und es lässt sich
voraussagen, dass auch der neue Schrei nach Werbungsbeschränkung für
Süßigkeiten im Hinblick auf eine weitere Zunahme der Fettleibigkeit bei Kindern
wirkungslos bleiben wird.
Denn das Problem ist ebenso alt wie all die falschen
Ansätze, um die Adipositas (Fettsucht) in der westlichen Menschheit zu
bewältigen.
Die Meldung gibt über die Ausbreitung des Phänomens nun sogar einigen Einblick:
1980 waren es bei den Jungen nur 4% gewesen. Bis zu 2017 hatte sich diese Zahl
also mehr als verdoppelt. Interessant sind auch die internationalen Statistiken
über fettleibige Jungen, z.B. in den USA 23,3% und Indien 2,4%!
Diese Meldung ist allerdings in sich unzureichend, da die Altersangaben fehlen
und unverständlicherweise die noch viel höheren Vergleichszahlen für die
Mädchen ebenso. Dennoch ist die Eröffnung dieses gesundheitlichen Desasters,
speziell in der westlichen Welt, immerhin das Eingeständnis eines
jahrzehntelangen Versäumnisses der Beachtung dieses internationalen Phänomens.
Eins ist gewiss: Die Kinder nehmen vom Kleinkindalter ab zu viele
hochkalorische Nahrung zu sich, und zwar nicht erst allein, seit sie selbst in
der Lage sind, mehr oder weniger heimlich Süßigkeiten zu ergattern: Es beginnt bereits
im frühen Kindesalter, und deshalb hat sich über Jahrzehnte hinweg die
Vorstellung verfestigen können, dass es sich dann in diesen Fällen allemal um
eine genetisch bedingte Disposition zur Fettleibigkeit handle. Sogar ein
Forschungsprojekt eines Instituts in Hessen gab diese Vorstellung als ihr
Endergebnis bekannt. Man hatte eine Gruppe von übergewichtigen
Grundschulkindern zu einem mehrwöchigen stationären klinischen Aufenthalt
eingeladen und eine Zeitlang mit viel Ballaststoffen ernährt. Das Ergebnis:
Relevante Gewichtsabnahmen waren nicht zu verzeichnen. Ein damit nicht
zufriedenes Elternpaar war aber danach mit ihrer adipösen Tochter, die darüber
tief unglücklich war, zur Beratung bei mir angereist. Und dieses Mädchen
verriet mir – nachdem wir uns einige Stunden lang miteinander vertraut gemacht
hatten – ein Geheimnis: Dass ALLE diese Kinder (auch sie selbst) sich täglich
neu Süßigkeiten ergattert und heimlich vernascht hätten! „Da ist man eben
so drin“, sagte dieses Kind, „es geht eben gar nicht mehr
anders.“ Aber diese Wahrheit war gar nicht in die Mutmaßungen der Forscher
vorgedrungen!
Nun, diese Geschichte ist mehr als zwanzig Jahre her. Sie lässt sich in der
Praxis aber immer neu bestätigen. Mittlerweile gibt es sogar therapeutische
Spezialinstitute, die ihre langfristige therapeutische Unwirksamkeit
eingestehen: Sie erreichen zwar bei den meist bereitwilligen Patienten
beiderlei Geschlechts mit gekonnter Methode zunächst eine erhebliche
Gewichtsabnahme während des stationären Aufenthalts; aber nach der Rückkehr in
den Alltag beklagen die Patienten einige Wochen später einen sie selbst
beschämenden Rückfall fundamentaler Art: Sie schaffen es nicht auf die Dauer,
ihre unbändige orale Lust – besonders auf Süßes – zu bezähmen!
Spätestens aus solchen Ergebnissen müsste nun aber allgemein in Fachkreisen die
Erkenntnis heranreifen, dass im Hinblick auf die Adipositas die Berechtigung
vorhanden ist von einer „FettSUCHT“ im wahrsten Sinne dieses Wortes
zu sprechen. Denn nicht nur naschsüchtige Kinder, sondern auch Halbwüchsige mit
anderen oralen Ersatzobjekten wie Alkohol, Zigaretten und Rauschgiften büßen
durch maßlose Gewöhnungen daran die Fähigkeit ein, davon wieder zu lassen. Die
Fachwelt müsste aufgrund dieser Erfahrungen aber nun endlich erkennen: Diese
epidemische Zunahme der Adipositas in den westlichen Nationen bedarf zwar als
Voraussetzung eines gewissen Wohlstands als Grundlage, aber die eigentliche
Ursache liegt tiefer: Sie beruht – wie bei allen Süchten – auf einem
unbewussten, nicht zu bändigenden mächtigen Bedürfnis ihrer Seele! Bei der
Adipositas handelt es sich meist um unser aller Urbedürfnis am Lebensanfang:
durch Einverleibung von natürlicher, vom Säugling unbewusst erwarteter Nahrung
in einer zufriedenstellenden Weise satt, zufrieden und glücklich zu werden! Den
Hinweis, dass ein orales Defizit (von OS= lateinisch „der Mund“
abgeleitet) die Ursache späterer seelischer Störungen sein könne, hat bereits
Sigmund Freud vor mehr als einem Jahrhundert gegeben, und eine seiner Schulen
hat das besonders für die Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie nutzbar
gemacht, wie z.B. die neoanalytische Schule mit Annemarie Dührssen, Werner
Schwidder und Fritz Riemann. Wir wissen also bereits aus dem vorigen
Jahrhundert, dass sich aus den unnatürlichen, nicht befriedigten Sättigungs-
und Bindungserlebnissen des Säuglings und Kleinkindes seelische Defizite in das
Gehirn einprägen. Dadurch können sich charakterliche Unausgeglichenheiten und
in übelsten Fällen lähmende orale Süchte entwickeln. Dieses Erfahrungswissen
ist nun heute sogar durch die neue Hirnforschung untermauert worden!
Als in den sechziger Jahren der familienfeindliche Trend losbrach, konnte ich
deshalb voraussagen, dass sowohl seelische Verwahrlosung als auch Essstörungen
in epidemischen Ausmaßen entstehen würden. Diese Störungen bekommen zwar durch
die Verschiedenartigkeiten der Umwelt eine spezielle Färbung, aber sie haben
letztlich eine ganz eindeutige seelische Ursache: eine in sie eingeprägte
unbewusste fundamentale Unzufriedenheit! Diese wurzelt sehr oft in einer
obligatorischen, aber dennoch unzureichend durchgeführten Nähe des Neugeborenen
zu seiner Mutter in seinen ersten drei Lebensjahren! Am besten geschieht das
mithilfe der leiblichen Nähe und einer natürlichen Fütterungsweise eben durch
die Frau, die dieses Kind geboren hat. Wer dieses Urmodell mit seinem Kleinkind
als Mutter durchhält, erntet reife Frucht: Naschsüchtigkeit bleibt ebenso aus
wie quengelndes Suchverhalten nach allem und jedem und als Folge davon dann
unruhiger Unkonzentriertheit schon in der Grundschule! Der Mensch ist ein in
die Natur eingebettetes Wesen. Diese Natur hohnlachend durch angemaßte
Künstlichkeiten oder Schreinächte allein im Dunkeln zu ersetzen, bewirkt
grundsätzlich auf der ganzen Linie, dass sich die gesamte Gesellschaft
schließlich elende oral getönte Süchte einhandelt! Durch Überforderung der
Gesundheitssysteme wächst so auf die Dauer unweigerlich Niedergang; denn nur
allzu leicht entsteht im Heranwachsenden dann aufgrund endloser negativer
Erfahrungen mit dem eigenen Unzureichendsein schließlich ein resignierter
Charakter und im übelsten Fall eine dann nur noch schwer löschbare Depression!
WHO: Heute ist jeder dritte Europäer in dieser Weise angefochten!!! Einer der
Großmacht Natur trotzendes Verhalten der eben beschriebenen Art erweist sich
damit als eine ihrem Schöpfer gegenüber ungehorsame Grenzüberschreitung! Wir
brauchen also ganz dringend neue gesellschaftliche Maßnahmen, die es den
Müttern ermöglichen, zunächst bei ihren Winzlingen zu bleiben, bis diese
Kleinkinder Gemeinschaft mit Gleichaltrigen überhaupt ertragen können!
(Realisierbare Modelle dafür sind längst vorhanden.) Um seelisch zu gesunden,
brauchen wir also auch im Hinblick auf die Ökologie des Menschen in später
Stunde eine Umkehr, die den Urbedürfnissen der Kleinkinder gerecht wird! Ein
gott-gehorsames „retour à la nature“ also! Denn trotz all seiner
Geduld, lässt Gott seiner dennoch gewiss nicht endlos spotten!
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